Kleine Urlaubslektüre für die Sommerpause: Ökotopia

Von Luisa Zenker

Autofreie Innenstädte, eine Wirtschaft im Kreislauf – ohne Wachstum – , klimaneutral erzeugte Energie, eine sozialgerechte Gesellschaft mit geringen Einkommensunterschieden und hohen Teilhabemöglichkeiten – was heutzutage viele soziale Bewegungen umtreibt, sind eigentlich keine neuen Gedanken. Schon 1975 veröffentlichte Ernest Callenbach eine literarische Utopie, in welcher verschiedene alternative Lebensmodelle versammelt. Ökotopia heißt das kleine Buch – nach den beiden griechischen Wörtern Oikos (=Zuhause) und Topos (=Ort) benannt. Ernest Callenbach versucht so einen Ort zu beschreiben, wo sich vielleicht viele von uns tatsächlich zuhause fühlen könnten. Der Autor, zu der Zeit ein unbekannter Literaturwissenschaftler, trug mit seinem Buch maßgeblich zur Entstehung und Ausbreitung der Umweltbewegung bei. Selbst Steve Jobs bezeichnete Ökotopia als eine Bibel seiner Generation.

Worum geht’s?

Die Geschichte spielt im Jahr 1999. Was hier als Schwelle zum neuen Jahrtausend fungiert, könnte genauso gut die Schwelle hin zu einer anderen Gesellschaft verdeutlichen. Der US-amerikanische Reporter William Weston wird von der Times-Post beauftragt, nach Ökotopia zu reisen. Einem Land, das seit 1980 – abgespalten von den USA – ein neues sozial und ökologisch gerechtes Gesellschaftssystem aufbaut. Der Reporter, ein chauvinistischer, ganz gewöhnlicher US-Amerikaner, reist skeptisch in das geheimnisvolle Land – einem Gebiet im Westen der ehemaligen US-Bundesstaaten Kalifornien, Oregon, Washington. Mit Hilfe von Tagebucheinträgen und Zeitungsartikeln wird der*die Leser*in durch eine Welt geführt, die Mut braucht, gedacht zu werden.

Antworten für eine neue Zukunft

Callenbach beantwortet einfach mal die brennenden Fragen der sozialökologischen Krise. Wie könnte Arbeit, Kunst, Kultur und Erziehung organisiert werden?  Was sind lebenswerte Städte und Dörfer? Wie könnten wir sicher und ökologisch vertretbar Energie gewinnen?  Was heißt es zu bestrafen und warum braucht jede*r von uns Eigentum? Auf welche Art und Weise könnten wir als Bürger*innen zusammenleben und kommunizieren? Der Autor Ernest Callenbach versucht sehr detailliert alle denkbaren Teilbereiche des sozialen, wirtschaftlichen, politischen und privaten Lebens zu beschreiben. Dabei fühlt sich die Beschreibung so manches Mal wie eine Reise in die Vergangenheit und Zukunft zugleich an. Zwar besitzt der*die einzelne Ökotopianer*in weniger, doch das heißt nicht, dass dieses Land zurück in den Naturzustand will: Energie und Kunststoffe werden in komplizierten technischen Verfahren gewonnen, Transport, Logistik und Medizin sind hochentwickelt, es wird geforscht, gelehrt, musiziert, diskutiert.  Der Roman verteufelt moderne Technologien nicht, lehrt jedoch einen kritischen Umgang mit ihnen.

Stille in einer Großstadt

Der Autor provoziert, klärt auf, über- oder untertreibt (je nachdem, aus welcher Perspektive man argumentieren möchte), verlautet Kuriositäten, die ein kopfschüttelndes Lachen hinterlassen und stellt Fragen, die so noch nie gedacht wurden. Eine davon geht auch dem Protagonisten Will durch den Kopf: Wie werden die Ökotopianer*innen mit dieser Stille fertig? Eine Stille, verursacht durch autofreie Städte und lautlose Kühlschränke, durch verbotenen Luftverkehr und ein unterirdisches Förderbandsystem für den Gütertransport. Stille in einer Großstadt, die sich möglicherweise auch nur für den Reporter aus New York so seltsam anfühlt, denn was er plötzlich hört, sind Kinderstimmen, Vogelgezwitscher, Gespräche, Musik, Gelächter. Denn die Menschen haben Zeit, ein Instrument zu lernen, sich zu unterhalten, laut zu lachen. Die Lohnarbeit ist zwar nicht aufgehoben, aber in Ökotopia arbeitet jede*r nur 20 Stunden pro Woche. Es gibt eine Art Grundeinkommen. Arbeit gehört zum Alltag und macht Spaß, die Betriebe sind selbstorganisiert, hierarchiearm und im Besitz der Arbeiter*innen. Bei der Herstellung von Elektroartikeln sitzt niemand am Fließband und übt acht Stunden die gleiche Bewegung aus. In Arbeitsgruppen wird das Gerät gemeinsam gebaut, das dauert zwar länger, aber in Ökotopia braucht man eben auch weniger zum Leben.

Was Ökotopia so interessant macht

Die restliche Zeit dient der Kunst, Kultur, Bildung, Natur und ganz wichtig: dem Sozialen. Denn das ist vielleicht das, worin sich das Buch besonders von einer wissenschaftlichen Abhandlung unterscheidet. Durch die Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen wird das Buch lebendig, wird diese Gesellschaft nicht nur eine Idee neuer Modelle für Gefängnisse, Bildungsinstitutionen, Unternehmen, sondern erreicht den*die Leser*in emotional. Plötzlich wird die eigene Welt hinterfragt: Wieso weinen wir so wenig? Was heißt es, zu streiten? Wieso fühlen wir uns einsam? Warum sind wir so selten ehrlich zueinander? Wer sorgt sich um wen und warum wird die monogame Paarbeziehung so hochgehalten? Welche Verantwortung tragen Familienmitglieder und Freund*innen für die Sorgearbeit?
In Ökotopia werden viele Probleme körperlicher und psychischer Natur schon allein durch die soziale Einbettung gelöst. Arzt oder Ärztin* zu sein heißt eben nicht nur, zu operieren, sondern auch dem Patienten zuzuhören. Allein zu wohnen, ist in Ökotopia eher die Ausnahme als die Regel: in Hausgemeinschaften wird sich gesorgt und gekümmert, Kindererziehung wird als gemeinschaftliche Aufgabe verstanden. Es geht direkt und ungekünstelt zu. Ehekräche werden offen auf der Straße ausgetragen. Fremde umarmen einander. In Ökotopia sitzt man viel bei Tee, Kaffee und Marihuana[1] zusammen. Die Menschen befinden sich in einem komplexen Beziehungsgeflecht. Die Ehe hat keinen zentralen Stellenwert im Leben. Beginnt es also in einer Partnerschaft zu kriseln, dann wird ein*e Ökotopianer*in keine lähmende Angst verspüren, alles zu verlieren, denn er*sie hat genügend Freundschaften.

Ein Mensch ohne Heimat

Der Reporter, zuerst skeptisch, verliebt sich mehr und mehr in das Land. Zwischendurch reflektiert er sein früheres Leben in den USA und erklärt: „Ich bin ein Mensch ohne Heimat.“ Der Begriff „Heimat“ steht hier natürlich nicht für Herkunft, idyllisches Bachrauschen mit Hornbläsern im Hintergrund oder gar Ausgrenzung, sondern für eine kollektive Basis, welche er in den USA nie hatte. In sehr persönlichen Tagebucheinträgen schildert der Reporter seine Liebesbeziehung zu Marissa – eine Ökotopianerin. Diese Liebesgeschichte könnte dem ein oder der anderen gar zu viele Seiten des Buches ausfüllen. Was den Reporter Will dabei immer wieder fasziniert: die sexuelle Beziehung der Ökotopianer*innen. Seinen Sexismus muss er sich sofort abgewöhnen. Dafür muss er lernen, Emotionen zu zulassen, etwas, was dem Karrieremann das ganze Buch über schwerfällt. Schließlich leben die Ökotopianer ihre Sexualität frei und ungezwungen aus.

Kriegsspiele, Apartheid, Esoterik

Provozierend spielt der Autor aber auch auf Ideen an, die man erstmal verdauen muss, ja die Widerstand in einem regen und aufzeigen: Auch in Ökotopia ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Einen kritischen Punkt bilden die sogenannten Kriegsspiele, welche, anstelle der Fußballspiele hier, ein großes Publikum begeistern:  Hierbei kämpfen (nur) Männer mit Speeren aus verschiedenen Bezirken gegeneinander. Lebensgefährliche Verletzungen sind die Regel, nicht die Ausnahme. Zur Begründung heißt es, dass der Mensch biologisch zur Konkurrenzhaltung programmiert sei und diesem Ausdruck verschaffen muss. In den USA werde dies durch Kriege und Autos  Zum Abbau der Aggressionen regelmäßig ritualisierte Kriegsspiele? Ist das ethisch vertretbar? Ein Gedanke, der etwas düster auf die Menschheit und in die Zukunft schaut.

Ökotopia – ein weißgewaschener Roman

Auch bei der Apartheid bleibt der Autor düster. Zwar haben in Ökotopia alle Menschen die gleichen Rechte, die Gesellschaft wird als solidarisches multikulturelles Miteinander verstanden, dennoch leben die meisten People of Color in kleinen autonome Verwaltungseinheiten, die oftmals auch eine Unabhängigkeit von Ökotopia erstreben. Stadtviertel mit überwiegend schwarzer Bevölkerung oder ehemalige Chinatowns bilden eigene Staaten. Die Ureinwohner*innen Amerikas, die First Nations, erscheinen als Teil einer idealisierten, präkolumbianischen Vergangenheit. Dass der Autor selbst noch oft von „den Schwarzen“ spricht, ist vielleicht entschuldigend auf die damalige Zeit zu schieben. Einige Kritiker*innen bezeichnen Ökotopia als whitewashed – weiße Protagonist*innen handeln in einer homogenen Gesellschaft, das Apartheidsystem weist Spuren rechter Gedanken auf.[2] Möglicherweise scheint der Autor selbst das System nicht zu wollen, denn am Ende des Kapitels schreibt er: „Aber das Eingeständnis, daß ein harmonisches Zusammenleben der verschiedenen Rassen nicht möglich ist, gehört sicherlich zu den entmutigendsten Entwicklungen in Ökotopia und trübt auch Zukunftsaussichten unserer Nationen.“ Eine dystopische Zuspitzung, die nie eintreten darf.

Dass der Autor hin und wieder spirituelle Praktiken oder esoterische Gedanken fallen lässt, stört weniger, als das es aufweckt und zeigt: Der Roman erzählt Geschichten, innerhalb der die Umweltbewegung groß wurde. Ein Leseerlebnis, das eben auch in die Vergangenheit reist – zu den Ursprüngen alternativer Öko-Bewegungen.  Denn der Autor selbst griff bei der erzählerischen Umsetzung von Ökotopia, auf viele Experimente zurück, die er während seiner Zeit im amerikanischen Westen kennengelernt hatte. Eine Erzählung, die esoterische Praktiken vernachlässigen würde, wäre vielleicht zu dieser Zeit zu viel verlangt.

Ökotopia kannte noch kein Internet oder Klimawandel

Callenbachs Utopie kannte noch keine Computer, kein Internet, keine Digitalisierung und keinen Klimawandel. So zumindest schreibt es die Süddeutsche Zeitung. Das dem nicht ganz so war zeigt en Blick auf den Zeitstrahl. Der Club of Rome warnte schon 1972 vor der Klimawirkung von Treibhausgasen. Fakt ist jedoch auch: Die Mehrheit der Gesellschaft kannte tatsächlich noch nicht das Internet oder den Klimawandel.  Natürlich zeigt das Werk damit auch, wie sehr Utopien notwendigerweise dem Zeitgeist verhaftet sind. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Hätte Callenbach um den Klimawandel und die Digitalisierung gewusst, hätte er “Ökotopia” völlig anders schreiben müssen. Keine Autarkie, mehr Austausch mit dem Rest der Welt, weniger Holz, mehr moderne Technologie.“ Darauf könnte man erwidern: Stimmt so nicht ganz. So anders hätte er es vielleicht nicht schreiben müssen. Nicht moderne Technologien allein werden das Klima retten, sondern hauptsächlich eine Umstellung der Wirtschaft auf Nullwachstum und Regionalisierung.

Ein Fazit

Trotz der vielen kritischen Stimmen macht es Spaß, das Buch beim Reisen zu lesen, sich die Landschaften Ökotopias voller Wälder und ruhiger Städte vorzustellen, eigene Wertevorstellungen sowie Verhaltensweisen zu hinterfragen. Ein Aufstieg auf der Karriereleiter, ein eigenes Haus mit Auto, eine glückliche Ehe – Werte, die bei uns hochgehalten wurden und zu großen Teilen noch werden, spielen in Ökotopia eine andere Rolle. Vielmehr geht es um ein System des Gleichgewichts, sei es in der Wirtschaft oder im Sozialen.

Der Schriftsteller Rolf Schwendter beschreibt Ökotopia als „multikulturell, sanft technologisch, dezentralistisch, frauenfreundlich, hierarchiearm (aber nicht hierarchielos)“. Angesichts heutiger ökologischer und sozialer Probleme ist Ökotopia eine Alternative, die bestimmt nicht perfekt ist, aber zumindest einen Ausgangspunkt darstellt. Natürlich werden Themen angesprochen, über die sich streiten lässt, ganze Bereiche wurden vergessen, andere dafür einfach mal konkret ausgepackt. Ernest Callenbach selbst bezeichnete seinen Roman als „Wette mit der Zukunft“. Schade, dass diese Zukunft auch nach 45 Jahren noch nicht einmal ansatzweise besteht.

Trotzdem kann diese Utopie (als Nicht-Ort) selbst helfen, unsere Gesellschaft zu verändern. Zwar verliert der Autor selbst wenige Worte zur Transformation, doch Ökotopia könnte ein Ziel sein. In Zeiten von dystopischen Nachrichten, Romanen und Filmen dient das kleine Büchlein ein Lichtblick. Natürlich sind Dystopien nicht wertlos, denn sie machen auf reale Gefahren aufmerksam, aber bei all den realen Waldbränden, Müllinseln und sozialen Ungleichheiten, hilft der Roman, der Weltuntergangsstimmung etwas Helles und Positives entgegenzusetzen.

Das Buch  Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999 von Ernest Callenbach ist auch in der SLUB erhältlich.

Fußnoten

[1] Natürlich wurden in Ökotopia Drogen entkriminalisiert.

[2] Folgende Punkte werden kritisiert: “We find the book taking much more time to hash out the intricacies of technology and culture than treating the interplay of race and society., homogene gesellschaft: The underlying effects of ignoring the racial differences and populations of the American areas, that would later become Ecotopia, whitewashes and erases what could have been a thought-provoking and a more realistic portrayal of a society worthy of respect.” (https://medium.com/literary-analyses/ecotopia-the-whitewashed-fc29623dfa6a)

Weitere Quellen: