Ein Kommentar (von Karlsson)
Herbst 2021. Die COVID-19-Pandemie ist noch nicht einmal zu Ende, das dankbare aber doch sehr punktuelle Balkongeklatsche für die tapferen Pflegekräfte hingegen schon längst verhallt und die FDP beteiligt sich an der neuen Koalitionsregierung. Während Christian Lindner bis spät in die Nacht am Schreibtisch für den Fortschritt der Gesellschaft kämpft – zumindest in diesem Punkt haben wir wohl etwas gemeinsam – betitelt der Wirtschaftpodcast „Wohlstand für alle“ das FDP-Programm mit „Mythen first, Fakten second“. (1)
Tauchen wir also ein in die schillernde Welt der Liberalen, die sich selbst gerne als progressiv, realistisch und ideologiefrei verstehen, um alle Menschen links von sich entweder als Kommunisten oder Utopisten zu diffamieren und dabei doch nur ihre konservative Seite offenzulegen. (2)
Spricht man einen Liberalen – und die generisch-maskuline Form soll an dieser Stelle reichen – auf die inzwischen eigentlich zu genüge zitierte Oxfamstudie (3) über die Vermögensverteilung der Menschen an, so lautet die Antwort etwa, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg hätten sich ihr Geld eben fleißig verdient. Gerne fällt dann der Begriff der „Neiddebatte“, der als verschlagwortetes argumentum ad hominem das Gegenüber in seiner scheinbaren Moralapostelei zu entlarven trachtet. Die Sache hat nur einen Haken: Die von den Liberalen so oft beschworene Leistungsgesellschaft gibt es nicht, ja sie ist ein hartnäckiger Mythos, der paradoxerweise nicht nur von denen am Leben gehalten wird, die davon profitieren.
Also zurück zu den Grundannahmen! In einer Leistungsgesellschaft werden Menschen anhand ihrer Leistung entlohnt. Wer also sehr wenig leistet, verdient wenig, wer noch spätabends Akten wälzt, verdient viel Lohn. Wer gar nichts leistet, fristet – Achtung, Kampfbegriff! – ein Dasein in der sozialen Hängematte, so es denn eine gibt.
Ob wir denn nun schon in einer solchen Leistungsgesellschaft leben oder ob das nur wünschenswert wäre, darüber gehen die Meinungen auseinander. Unsinn ist jedoch beides. Und das lässt sich anhand der drei bekannten Fiktionen des Leistungsprinzips (4) erklären:
1. Die Fiktion der Gerechtigkeit
Man muss wohl annehmen, John Rawls’ berühmter Schleier des Nichtwissens werde in liberalen Kreisen bereits als historisches Faktum anerkannt. Wenn jeder für seinen Erfolg selbst verantwortlich ist, dann sind im Umkehrschluss auch all jene (finanziell) Erfolglosen an ihrem eigenen Misserfolg schuld. Die Fiktion der Gerechtigkeit ist es, die uns den eigenen Anteil an unserem Erfolg systematisch überschätzen lässt. Faktoren wie Hautfarbe, Geschlecht, Körpergröße, Religion oder Attraktivität, für die wir nichts können, die aber trotzdem einen Einfluss auf den beruflichen Erfolg haben, werden dabei ausgeblendet. (5)
Und natürlich – nur so ergibt Rawls’ Gedankenexperiment einen Sinn – entscheidet der Umstand, in welchem Land und in welchen Stand hinein wir geboren wurden, maßgeblicher über unsere beruflichen Chancen, als es Fleiß und Ehrgeiz je könnten. (6) Gemessen an der Länge des Arbeitstages, dem Gesundheitsrisiko, „Blut, Schweiß und Tränen“ (7) müsste ein durchschnittlicher zwölfjähriger Kobaltminenarbeiter im Kongo ein Vielfaches von deutschen Politikern verdienen, die sich im Schwarzweißfilter am Schreibtisch ablichten lassen. (8) Doch diese „intuitive“ Ungerechtigkeit führt zum zweiten Problem hin.
2. Die Fiktion der Messbarkeit
Weder ist Leistung im nichtphysikalischen Sinne eindeutig definiert noch lässt sie sich objektiv messen. Wenn es um das Aufeinanderstapeln von Backsteinen in einer bestimmten Zeitspanne geht, mag das vielleicht noch versucht werden, (9) spätestens bei geistigen oder sozialen Arbeiten verwässert Leistung als Messgröße.
Ist es eine größere Leistung, zwei Kranken ein klein wenig zu helfen als einem Kranken sehr viel? Ist eine Dissertation in Astronomie eine größere Leistung als in Psychologie? Erfolgt die Bewertung durch Menschen, dann kommen wieder die oben genannten Vorurteile bezüglich Geschlecht, Hautfarbe, Kleidung etc. ins Spiel. Erfolgt die Bewertung automatisiert, sind die Vorurteile bereits durch den Entwicklungsprozess einprogrammiert.
3. Die Fiktion der Zuordnung
Das Leistungsprinzip tut so, als arbeiteten alle Menschen als Individuen gegeneinander in klar abgrenzbaren Arbeitsschritten, doch das Gegenteil ist in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen der Fall. Wer im Schulunterricht in den zweifelhaften Genuss von Gruppenarbeiten gekommen ist, bei denen manche Personen sehr viel und andere sehr wenig zum Gesamtergebnis beitragen, wird mit dem Bewertungsdilemma vertraut sein.
Entweder die Lehrkraft entscheidet aus dem Bauchgefühl heraus, wer wie viel „geleistet“ hat, oder die Gruppe muss das selbst ausdiskutieren, was wiederum dazu führt, dass die aggressivste oder selbstbewussteste Person übervorteilt wird. Oder ein anderes Beispiel: Der eine Backsteinstapler aus dem oberen Beispiel hat vielleicht eine Frau, die sich ganz dem alten Rollenbild gemäß um ihr gemeinsames Kind kümmert, während der andere alleinerziehend ist, deshalb aber weniger Schlaf bekommt und schlechter Backsteine stapeln kann. Die Frau des ersten Arbeiters taucht in der Rechnung nicht einmal auf.
Die Leistungsgesellschaft bleibt ein Mythos, der sich trotz seiner zahlreichen Widersprüche noch immer in den Köpfen hält. Bemerkenswert wird es, wenn die gleichen Personen, die sich darauf berufen, sich gegen eine Erbschaftssteuer aussprechen, also die unverdiente Leistung anderer in Anspruch nehmen wollen – eine Art finanzielle Erbsünde für all diejenigen, die nicht geerbt haben. Oder wenn der Hobbyinvestor des Vertrauens dazu rät, das Geld durch kluges Investment „für sich arbeiten“ zu lassen und am Ende die wie aus dem Nichts geschöpfte Rendite einzustreichen. Wenn man die bis tief in die Wurzeln liberale Gesellschaft so reden hört, erhält der FDP-Slogan der Bundestagswahl eine sehr ehrliche Bedeutung: „Nie gab es mehr zu tun.“
Zum Weiterschauen und -lesen:
Fußnoten: