Zunächst etwas Sonnenschein.
Schon vor drei Wochen rieb ich mir die Augen als ich nach einigen Tagen des Aufenthalts in nicht-sächsischen Gefilden nach Dresden zurückkehrte und mit Freude feststellte, dass eine Autospur auf der Albertstraße nun tatsächlich Fahrradstreifen in beide Fahrrichtungen gewichen ist und damit einen schnelleren und sichereren Fahrradverkehr auf der Hauptverbindungsachse zwischen Neustadt und TU ermöglicht. Das wurde zwar bereits vor knapp einem Jahr am 30. Oktober 2019 von den Vertreter*innen der Stadt entschieden, nachdem noch gegenteiligem, haltlosen Stadtratsbeschluss im Januar 2019 gegen diese auch vom Baubürgermeister erstrebten Baumaßnahme nach zuvor acht Jahren (!) Kampagne vonseiten des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) wollte ich jedoch dieser positiven Entwicklung erst Glauben schenken, nachdem ich die Veränderung auch tatsächlich gesehen hatte.
Nun vor einer Woche eine weitere erfreuliche Nachricht: Das Rektorat der TU Dresden zieht die Strafanträge gegen die Initiator*innen der Hörsaalbesetzung zurück. Man kann von der Art und Weise der Besetzung halten was man möchte, dazu gab es eine Vielzahl von Debatten, wie bereits erwähnt, äußerte sich auch die Tuuwi in einem Statement. Bemerkenswert an der Entscheidung des Rektorats ist deren Begründung. So ist auch relativ neutral davon die Rede, dies sei „keine Wertung der Vergangenheit“, wodurch sie Universitätsleitung weniger angreifbar macht. Vielmehr ginge es darum ein Neuanfang zu setzen und einzuladen zu einer „offenen und respektvollen Diskussion“, so die frisch gekürte Rektorin Prof. Ursula M. Staudinger (weitere erfreuliche Randnotiz des Sommers: neben ihr wurde auch die Position der Prorektorin für Universitätskultur mit Prof. Dr. Roswitha Böhm weiblich besetzt).
Aber das ist nicht alles. „Nachhaltigkeit soll nicht nur verstärkt in Forschung und Lehre Eingang finden, sondern die TUD soll selbst als Reallabor genutzt werden, wie zum Beispiel bei der Nutzung von Abwärme großer Server, beim ressourcenschonenden Einsatz von Reinigungsmitteln, bei der insektenfreundlichen Gestaltung des Campus oder der Energieeffizienz von Gebäuden und Fahrzeugen des Fuhrparks.“ Als ich das las, rieb ich mir erneut die Augen. Es scheint, als seien die jahrelangen Gebete meiner Hochschulgruppe endlich erhört worden. Wie unsere Kolleg*innen von der Hochschulgruppe WHAT völlig richtig festgestellt haben, wird sich das „neue Rektorat […] an den vielversprechenden Ankündigungen in Bezug auf Klimaschutz messen lassen müssen“. Natürlich müssen auf diese großen Worte in den nächsten Jahren Taten folgen, angesichts großer Steine wird dies für Staudinger und Böhm kein einfacher, gerader Weg. Dennoch sieht es scheinbar so aus: In der konservativen Hauptstadt Dresden des konservativen Bundeslandes Sachsen mit einer großen Universität, an der sich viele konservative Kräfte tummeln, tut sich etwas, was man mit Fug und Recht als Fortschritt und Zukunftsdenken bezeichnen kann.
Dann der Regen.
Dann musste ich diese Tage jedoch auch nationale und globale Nachrichten empfangen und aus dem Lachen wurde schnell ein Weinen. Der Fall Nawalny in Russland. Autogipfel. Wälder weichen für Braunkohle und Autobahnen (Was geht, Deutschland?). Vor allem aber: Moria.
Mir fiel wieder ein Gespräch mit einem Student bei der Hörsaalbesetzung 2019 ein. Für ihn wie für viele andere war das zivile Ungehorsam als Form der politischen Partizipation unverständlich. Er war der Meinung mit der Ausbildung von qualifizierten Fachkräften, mit Expertise, mit deutschen Ingenieur*innen werden wir die Welt retten, die Menschheit vor den Auswirkungen des Klimawandels bewahren. Umso unbegreiflicher und widersprüchlicher war für ihn, wie die Aktivisti daher die Lehre und damit den Fortschritt mit ihrem Legitimationsanspruch aufhalten würden. Schon mein Chemielehrer hat uns in der Oberstufe von den Möglichkeiten der Wasserstoffindustrie erzählt und er war der festen Überzeugung, dass der momentane Entwicklungsstand der Technologie ausreichend ist, um eine erfolgreiche Energiewende durchzuführen. Ich lerne in meinem Studium eine Vielzahl von Komponenten einer zukunftsträchtigen Energieversorgung kennen und klar, es gibt noch einiges zu tun, die Potentiale sind jedoch riesig.
Hier geht es mir gar nicht speziell um Klimawandel, sondern um die politische und gesellschaftliche Trägheit im Allgemeinen. Wenn parlamentarische Arbeit, Diplomatie und Lobbyarbeit versagen, muss sich anderweitig Gehör verschafft werden. Der Akt des zivilen Ungehorsams zielt auf die Beseitigung bestehenden Unrechts durch symbolischen Verstoß gegen die Rechtsordnung. Letztlich geht es um die Durchsetzung von Bürger*innen– und Menschenrechten innerhalb der bestehenden Ordnung.
Warum sich lautstark eine Stimme verschaffen?
Warum ziviler Ungehorsam in der demokratischen Bundesrepublik Deutschland? Weil im Jahr 2020 immer noch Wälder für Braunkohle weichen sollen, während ich großflächige Werbeplakate von RWE im öffentlichen Raum sehe, auf denen sie sich als wegweisendes Unternehmen im Bereich der Erneuerbaren Energien framen. Weil Andreas Scheuer immer noch Verkehrsminister dieses Landes ist und einige Deutsche weiterhin mit 200 km/h über die Autobahn brettern wollen, obwohl es dafür keine rationalen Argumente gibt. Aber auch: Weil die AfD kleine Anfragen an das sächsische Bildungsministerium stellt, in denen sie erfahren will, wie viele „Flüchtlinge bzw. Asylbewerber“ sich an sächsischen Hochschulen immatrikuliert haben, auch im Zusammenhang mit Kosten für Sprachkurse. Weil Horst Seehofer Berlin verbietet, Flüchtlinge aufzunehmen, während ich mir bei Youtube anschauen kann, wie er seine heimische Modelleisenbahnplatte vorstellt (Danke, Horst.). Weil Autogipfeln eine größere Priorität zugemessen wird als brennenden Flüchtlingslagern.
Europäischer Wertegeist? – lol
Was momentan auf den griechischen Inseln passiert, ist unfassbar. Dass Moria brennt, das ganze Chaos an den Rändern Europas ist nur eine weitere Stufe einer jahrelangen Eskalationskette voller Ignoranz und Egoismus gegenüber menschlichem Leid. Das Preisgeld, welches die EU 2012 für ihren Friedensnobelpreis erhielt, lies sie „Kindern zukommen, die nicht in Frieden aufwachsen können“. Ein schlechter Scherz, wenn man acht Jahre später das Agieren europäischer Mächte beobachtet, die die volle Verantwortung für diese humanitäre Katastrophe tragen. Es war nicht mehr als eine Geste, ein scheinheiliges Heraufbeschwören eines europäischen Wertegeistes, der sich in der Atmosphäre verflüchtigt hat.
Dieser europäische Wertegeist war vor einem halben Jahr scheinbar ganz stark. In der akuten Notlage der Corona-Pandemie war es Regierungen plötzlich möglich, gegen den Willen von Unternehmen Berge zu bewegen, um Menschenleben zu retten. Politiker*innen hatten ein Gewissen und moralische Werte, sie priesen die Solidaritätsgemeinschaft an. Die Menschheit scheint nicht verloren, der Wert der Menschenwürde ist stärker als der Wert des Geldes und von Unternehmensinteressen. Nun sehen wir jedoch wieder: Als Mensch kann man sich auf diese Werte nur als Europäer*in berufen. Die Handlungsschnelligkeit der europäischen Regierungen diente der Bewahrung unseres Wohlstandes, nicht dem Wohl aller. An den Grenzen unseres Kontinents werden Leidende und Gebeutelte als Menschen zweiter Klasse behandelt. Das ist Rassismus in Reinstform, getrieben von Macht- und Geldgier. Die größte Pandemie unserer Zeit heißt Kapitalismus.
Bildet euch und bildet Banden!
Deshalb: Organisiert euch und werdet politisch aktiv. Desto mehr Menschen sich in Ortsgruppen und Vereinen organisieren, Demonstrationen und andere Formate veranstalten, sich selbst und andere (weiter-)bilden, Netzwerke knüpfen und vergrößern, partei- oder hochschulpolitisch aktiv werden, desto stärker wird die progressive Stimme des Humanismus. Der Akt des zivilen Ungehorsams ist ebenfalls eine Möglichkeit, jedoch nicht die einzige legitime. Ich möchte das in keiner Form glorifizieren. Aufgrund des proklamierten Anspruchs der Gewaltfreiheit ist ziviler Ungehorsam jedoch in vielen Fällen eine effektive Möglichkeit, öffentliche Debatten und Diskussionen anzustoßen, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern und gleichzeitig die Würde des Menschen zu bewahren, im Gegensatz zu beispielsweise bewaffnetem Widerstand.
Dass all diese Formen von politischem Engagement und Aktivismus uns hoffnungsvoll stimmen können, zeigen die neuen Fahrradwege auf der Albertstraße und hoffentlich bald auch ein “nachhaltiges Zukunftslabor” TUD und eine verstärkte Flüchtlingsaufnahme auch durch die Stadt Dresden. In diesem Moment machen sich studentische Senatsmitglieder Gedanken über die Transformation und Internationalisierung der Universität während Aktivist*innen vor dem Landtag Dampf für eine Evakuierung der Lager machen. Danke dafür. Danke für jede Art von Engagement.