Unterwex im Nirgendwo – Ein Erfahrungsbericht

Es ist gerade einmal Anfang Oktober und doch zittere ich unter sechs Schichten Kleidung. Der morgendliche Bodennebel lässt alles fahl und klamm werden, Wind und Nieselregen lösen einander im Schichtdienst ab. Ich befinde mich in Dannenrod, einem kleinen Dorf mit viel Fachwerk und anachronistisch anmutenden Kaugummiautomaten, die vermutlich seit Jahren niemand mehr gewartet hat, etwa zwanzig Kilometer östlich von Marburg. Vor mir erstrecken sich die Ausläufer des Dannenröder Waldes, eines dreihundert Jahre alten Mischwalds und größten Trinkwasserreservoirs Hessens.

Aber das ist nun bald Geschichte. Für den Bau der geplanten A49, welche Gießen und Kassel miteinander verbinden soll, muss ein großer Teil des Waldes weichen. Dass das wertvolle Biotop damit in zwei isolierte Stücke geschnitten und beim Bau der Straße das Grundwasser verunreinigt wird, dass in Zeiten des Klimawandels noch mehr Bäume gefällt und mehr Straßen gebaut werden, während die lang ersehnte Verkehrswende weiter auf sich warten lässt, juckt beileibe nicht alle Anwohnenden.

Viele versprechen sich von der Autobahn mehr Mobilität und Entlastung von den vielen Lkw, die tagtäglich über die Landstraßen donnern. Auf der anderen Seite spricht sich ein breites Bündnis von Anwohner:innen und Umweltinitiativen für den Erhalt des Waldes aus und solidarisiert sich mit der Besetzung, die nun seit einem Jahr den Danni, wie sie den Wald liebevoll nennen, vor der Rodung bewahren soll. Der Protest verbindet viele unterschiedliche Menschen. Radikale Ökoaktivistis und konservative Naturliebhaber:innen teilen sich hier das gleiche Abendessen und während sich die schwarz-grüne Landesregierung zur Durchsetzung der Rodung verpflichtet hat, greift der ortsansässige Kirchenverband den größtenteils anarchistischen Besetzer:innen unter die Arme.

Am Saum des Waldes ist ein Camp entstanden, mit Komposttoiletten, Küche und sogar einer eigenen Bühne, auf der abends Musik gemacht wird. Die Menschen kommen und gehen, manche nur, um sich ein Bild von der Lage zu machen, so wie ich; andere, um zu bleiben.

Sechs Baumhausdörfer reihen sich im Danni entlang der geplanten Autobahntrasse wie Perlen an einer Kette: Woanders, Morgen, Oben, Unterwex, Nirgendwo und (auf der anderen Seite der Bundesstraße) Drüben, eines wahnwitziger konstruiert als das andere. Woanders wird gerade ein Plenum abgehalten, Nirgendwo ist der mit Abstand am meisten besuchte Ort. Oben wird seinem Namen ebenfalls gerecht – ein geduldiger Mensch zeigt mir, wie man klettert. Doch das sind noch nicht alle Barrios, wie die Baumhausdörfer allgemein genannt werden. Im südlich gelegenen Maulbacher Wald wird gerade eines errichtet, während der Herrenwald im Norden schon seine eigene Infrastruktur hat. Alle drei Wälder sind von der Rodung bedroht. Dazwischen die Mahnwachen, etwa ein halbes Dutzend, legale Informationsknotenpunkte, an denen die Polizei (zumindest auf dem Papier) niemanden festnehmen kann.

In der Realität sieht es natürlich oft anders aus. Auf offener Straße werden wir von der Polizei gestoppt und unsere Personalien verlangt. Diese zu verweigern ist unser Recht, die darauffolgende Durchsuchung allerdings nicht. Die Hände an einen Zaun gepresst lasse ich mir von einem Polizisten die Schuhe ausziehen, meinen beiden Begleitpersonen widerfährt das gleiche. Etwas ratlos, aber nach außen hin selbstsicher, erteilt uns die Polizei schließlich Platzverweise und lässt uns gehen. Wer die vom Platz Verwiesenen sind, konnte sie nicht herausfinden.

Kaum zurück in Dannenrod geht es auch schon weiter. Während ein paar Kilometer entfernt noch das Eingangstor der Ferrero-Werke blockiert und im Maulbacher Wald mit der Rodung angefangen wird, haben Aktivistis auf einer kleinen Landstraße in Dannenrod eine Planierraupe entdeckt, die auf dem Weg in den Maulbacher Wald ist, und kurzerhand eine Sitzblockade gemacht. Wenige Minuten später ist das Fahrzeug besetzt und von drei Seiten blockiert.

Zu dem anfänglich halben Dutzend stoßen bald noch mehr Menschen dazu. Während es sich fünf Aktivistis auf dem Dach des Fahrzeugs, so gut es bei Wind und Regen eben geht, bequem machen, bekommt der Fahrer in der Kabine Kaffee und Kuchen ausgegeben. Der Protest richtet sich nicht gegen ihn, sondern soll verhindern, dass noch mehr zerstörerisches Gerät zum Ort der Rodung geschafft wird. Was als spontane Aktion begann, nicht mehr als ein unbedeutender Nadelstich angesichts des Aufgebots im Maulbacher Wald, zieht sich in die Länge. Polizei taucht auf, kann jedoch gegen die Blockade nichts ausrichten. Verstärkung wird gerufen.

Es beginnt bereits zu dämmern, als die Situation prekär zu werden droht. Die Polizei ist mit ganzen Hundertschaften angerückt, mindestens dreißig Fahrzeuge blockieren die Straße effektiver, als eine einzelne Planierraupe es je vermocht hätte. Die Besetzer:innen werden gekesselt, gleichzeitig bildet sich von außen auf beiden Straßenseiten eine Demonstration. Heiße Suppe direkt aus der solidarischen Küche wird an die Demonstrierenden ausgeschenkt, Rettungsdecken über die Köpfe der Cops hinweg auf das Fahrzeug geworfen. Wie es die fünf Menschen, die seit acht oder neun Stunden schon ungeschützt dort oben im Wind und Regen kauern, auf ihrem unbequemen Platz aushalten, ist kaum vorstellbar.

Und dennoch bleibt das angesichts dessen lächerlich hohe Polizeiaufgebot nicht mehr als eine Demonstration von Macht, welche sich aber mit jeder verstreichenden Minute selbst untergräbt. Als schließlich das SEK anrückt, ist es schon fast dunkel. Ein schwarz gekleideter Mensch steigt aus dem Auto und wirft einen kurzen Blick auf die Besetzung. „Alles Verbrecher!“, höre ich ihn zu seinen Kollegen sagen, bevor die Klettercops zur Tat schreiten. Irgendwo ahmen Menschen das Darth Vader-Thema nach.

Die Räumung ist langwierig und nicht besonders sanft – man will Feierabend machen. Hinter der behelmten Reihe werden die Aktivistis weggetragen und in die Gefangenensammelstelle gebracht, unter den Protestrufen der Demonstrierenden. Trotz allem können sie zufrieden mit sich sein. Einen ganzen Tag lang wurden Polizeikräfte gebunden, die ansonsten im Maulbacher Wald gewesen wären, wo die Mahnwache inzwischen aufgelöst wurde. Ein weiterer Tag Schonfrist.

Anderntags auf der Autobahnbaustelle der A49 bei Neuental, weit im Norden. Seit drei Tagen werden einige Baustellenfahrzeuge von etwa zehn Aktivistis besetzt, während rundherum weiter gebaut wird. Nach der Idylle des Waldes mutet concrete town, wie sie die Baustelle nennen, wie eine Wüste an. Erst hier werden einem die Konsequenzen, die der Weiterbau der A49 hat, richtig bewusst. Wir sind zu dritt, schieben einen Einkaufswagen voller Suppe, Brot und wichtiger Hygieneartikel über die stillgelegte Straße der Baustelle und fühlen uns wie auf einem fremden Planeten. Wann die letzte Lebensmittellieferung eingetroffen ist, wissen wir nicht. Vielleicht haben die Besetzer:innen den ganzen Tag noch nichts gegessen. Und sie müssen sich noch länger gedulden, denn die Polizei fängt uns ab und kesselt uns.

Zehn gepanzerte Cops umringen drei Menschen und einen Einkaufswagen. Die Besetzer:innen hätten ihre Chance gehabt, heißt es. Jetzt müssen sie wohl ohne Essen auskommen, aber auch ohne Erste-Hilfe-Sachen und Tampons. In der Gefangenensammelstelle, so die Cops, sollen sie später ebenfalls nichts zu essen bekommen – ein Grundrecht eigentlich, aber hier gelten andere Spielregeln.

Frustriert ziehen wir wieder ab und werden gehen gelassen. Wenigstens ein kleiner Lichtblick bleibt: Während die Polizei noch mit unserer Einschüchterung beschäftigt ist, klettert hinter ihrem Rücken ein Mensch auf einen noch unbesetzten Bagger und kettet sich daran fest. Die Räumung, erfahren wir später, dauert noch die halbe Nacht und endet, nachdem die Personalien der Besetzer:innen nicht festgestellt werden konnten, mit deren Freilassung.

Doch zur gleichen Zeit sind an anderen Orten die Rodungsmaschinen im Gange und fressen sich unaufhaltsam in den Wald. Jede Blockade, jede Besetzung, jedes Barrio dient letzten Endes nur einem einzigen Zweck: Dem Wald Zeit zu erkaufen. Seine drohende Vernichtung abzuwenden erscheint mir manchmal wie eine bloße Seifenblasenfantasie. Zu groß ist das Polizeiaufgebot, zu stark die Lobby für die Autobahn. Für manche, mit denen ich spreche, ist der Wald bereits Geschichte. Er werde nicht mehr als ein Symbol bleiben, so wie es auch mit dem Hambacher Wald geschehen ist. Auf ein klägliches Maß geschrumpft, Zeichen eines gescheiterten, aber notwendigen Widerstands, damit sich vielleicht beim nächsten Wald, der gerodet werden soll, jemand daran erinnert.

Die vergangenen Tage lassen mich nachdenklich zurück. Die Rodung ist im vollen Gange und ich verabschiede mich und fahre nach Hause. Kann ich das überhaupt mit meinem Gewissen vereinbaren? In dieser nur sehr kurzen Zeit habe ich ein Verantwortungsgefühl für den Wald entwickelt, das alle Aktivistis und Anwohner:innen, mit denen ich vor Ort gesprochen habe, miteinander verbindet und von dem ich mir wünschte, dass es mehr Menschen besäßen.

Vor der eigenen Haustür geht die Umweltzerstörung weiter. Von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt soll der Kiestagebau in Ottendorf-Okrilla (unweit von Dresden) erweitert werden und auch diesmal soll ein Wald weichen. Mit den Rodungsarbeiten wurde schon begonnen.
Fürwahr seltsame Zeiten.

Aufgeschrieben von Karlsson

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