Waldspaziergang mit Folgen – Ein Erfahrungsbericht aus Ottendorf-Okrilla

Ein bizarres Bild in Ottendorf-Okrilla : Kerzen und orangene Tücher neben gefällten Bäumen beim Día de los Árboles Muertos

Aufgeschrieben von Karlsson

Ein Totenschädel, orangegelbe Blumen und eine riesige Schneise im Wald – nicht gerade das, was man beim Sonntagsspaziergang durch den Wald erwartet, der sich zwischen Ottendorf-Okrilla und Würschnitz erstreckt. Etwa eine halbe Stunde fährt man mit dem Zug von Dresden nach Ottendorf-Okrilla. Während aller Augen sich zurecht auf den Dannenröder Wald in Hessen richten, der für den Bau einer Autobahn gerodet werden soll, wird direkt an der Türschwelle Dresdens still und heimlich ein weiterer Wald dem Erdboden gleich gemacht, in der Hoffnung, dass die kritische Öffentlichkeit es nicht mitbekommt. Dass der Wald keinen griffigen Namen hat wie der Hambi, der Danni, der Mauli oder der Herri, erweist sich dabei als ausgesprochen hilfreich, denn was man nicht benennen kann, darüber kann man auch nicht sprechen. Aber sprechen müssen wir darüber und zwar dringend. 

Was für die einen ein Erholungsraum ist, ein Ort zum Spazieren und Pilze sammeln, ein wertvolles Habitat oder eine grüne Lunge in einer vom Klimawandel mehr und mehr bedrohten Welt, stellt für die anderen nur ein Hindernis dar. Wie immer geht es dabei um Schotter – um echten wie um sprichwörtlichen. Der benachbarte Kiestagebau bei Ottendorf-Okrilla soll um stolze 944 ha erweitert werden oder wie man aus umgedrehter Perspektive sagen könnte: Der benachbarte Wald wird um 944 ha verkleinert. Die Stimmung vor Ort ist gemischt, locken doch die Versprechungen von einer starken Wirtschaft, Wohlstand und Arbeitsplätzen. Eine kleine lokale Bürgerinitiative „Contra Kiesabbau“ in Würschnitz müht sich unter dem Label „Wald statt Kies“, die drohende Umweltzerstörung an die Öffentlichkeit zu bringen und zu verhindern. Das Medienecho lässt zu wünschen übrig. 

Also was tun? Um mir ein Bild von der Lage zu verschaffen, fahre ich nach Ottendorf-Okrilla. Es ist der Día de los Muertos, der Tag der Toten, ein mexikanischer Feiertag, der traditionell zwischen dem 31. Oktober und dem 2. November gefeiert wird. Zu diesem Anlass hat die Bürgerinitiative zum Día de los Árboles Muertos eingeladen. Eine Totenfeier für die bereits gefällten Bäume. 

Von Ottendorf-Okrilla bis zur angegebenen Stelle sind es noch einmal fünfzehn Minuten mit dem Rad. Zu meiner Linken sehe ich den Kiestagebau, der durch einen Erdwall vor den Blicken der Vorbeifahrenden geschützt ist. Von den ortsansässigen Leuten im Sommer oft als Badestätte genutzt, wirkt die trostlose Mondlandschaft jetzt im November wenig einladend auf mich. 

Schließlich erreiche ich mein Ziel und befinde mich unversehens inmitten einer Schneise von vielleicht zwanzig Metern Breite, die in den Wald geschlagen wurde, um Platz für das Förderband zu schaffen, das später einmal den Kies abtransportieren wird. Das Ende der Rodungen ist das freilich noch nicht, denn wo Bäume stehen, kann man keinen Kies abbauen. 

Der Ansturm auf das angekündigte Treffen ist dann auch begrenzt: Zwei Menschen von der Bürgerinitiative und eine Hand voll Schaulustiger, insgesamt vielleicht zwei Dutzend Personen. Über die gerodete Fläche wurden Schnüre mit orangefarbenen Fähnchen gespannt und dem brauchtümlichen Vorbild folgend wurde ein Empfangsteppich aus Blumen und Tannengrün für die Seelen der verstorbenen Bäume ausgebreitet. 

 

Aber die Ruhe währt nicht lange. Mit lautem Dröhnen erscheint ein Polizeihubschrauber am Himmel und zieht über unseren Köpfen seine Kreise. “Immer wachsam!” lautet die Devise der schwarzgekleideten Blauen im Landkreis Kamenz. Ein paar Minuten später sind dann auch die Bodentruppen angerückt und weisen uns darauf hin, dass wir an einer unangemeldeten Versammlung teilnehmen. Eine neue Information für mich, aber es bleibt keine Gelegenheit zum Widerspruch. Aus Gründen ist es erst einmal wichtig, die Personalien aller anwesenden Personen aufzunehmen, auch wenn sich mittlerweile eine Versammlungsleiterin gefunden und eine Spontanversammlung ordnungsgemäß angemeldet hat. Man müsse prüfen, ob es laufende Verfahren gegen einige der Anwesenden gebe und diese gegebenenfalls von der Versammlung ausgeschlossen werden müssten. Wer kennt ihn nicht, den als Pilzsammler verkleideten Axtmörder, der sich auf jede Party schleicht? Für die Polizei scheinen die paar Student:innen, Kinder und Dorfbewohner:innen jedenfalls eine potentielle Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darzustellen. Die Personalien werden aufgenommen und wer sich weigert, muss sich nicht um eine Mitfahrgelegenheit kümmern. Ein paar Leute, die laut eigener Auskunft eigentlich zum Pilze sammeln in den Wald gekommen und aus Neugier stehen geblieben sind, werden gleich mitkontrolliert – man habe schon vom Hubschrauber ausgecheckt, wer hier Pilze sammelt und wer illegal unterwegs ist. Ja, das Auge des Gesetzes ist so scharf wie sein Scheitel. 

Ein wenig beschleicht einen schon der Verdacht, dass hier versucht wird, unliebsame Menschen auf Distanz zu halten. Nur dass die unliebsamen Menschen diesmal keine radikalen Umweltaktivist:innen sind, sondern ganz normale Menschen, der jüngste vielleicht zehn, der älteste an die siebzig Jahre alt, die einfach nicht wollen, dass für einen Haufen Kies ein Biotop zerstört wird. Wieder einmal muss ich mir die Frage stellen, wessen Interessen mein Freund und Helfer da vertritt. 

Traurig eigentlich.